Über die Zeitschrift

Änne Söll

EDITORIAL: „DAS IST DOCH NICHT AUTHENTISCH!" 

DIE PRAXIS DER FOTOGRAFIE UND DIE RHETORIK DER UNMITTELBARKEIT

Die Fotografie ist seit ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts eng mit der Vorstellung verknüpft, besonders naturgetreue Bilder zu liefern und dadurch die gezeigten Personen, Gegenstände oder Landschaften unverstellt zu vermitteln. Besonders die sich seit dem Beginn des 20. Jahrhundert etablierende Dokumentarfotografie profitierte von Anfang davon, dass die Fotografie als indexikalisches Medium scheinbar einen unmittelbaren Zugang zur Welt verschafft und dadurch den direkten Zugriff auf und Kritik an gesellschaftlichen und sozialen Missständen ermöglicht. Mittlerweile ist jedoch klar, dass fotografische Rhetoriken der Unmittelbarkeit sich auch gegen aufklärerische Ziele wenden können und Teil einer weltweiten Bilderindustrie sind, die unsere emotionalen und kritischen Reaktionen steuern und entschärfen können. Berechtigterweise fragt also die Künstlerin und Philosophin Hito Steyerl schon 2008: 

„Wie kann eine dokumentarische Distanz zurückgewonnen werden, die den Blick auf die Welt wieder freigibt? Wo soll der Standpunkt einer solchen Aufnahme sein, wenn wir schon immer alle in die Macht der Bilder eingebettet sind? Eine solche Distanz kann nicht räumlich definiert sein. Sie muss ethisch und politisch gedacht werden, aus einer zeitlichen Perspektive. Nur aus der Perspektive der Zukunft können wir eine kritische Distanz zurückerlangen, einer Zukunft, die Bilder aus der Verwicklung in Herrschaft entlässt. In diesem Sinne darf kritischer Dokumentarismus nicht das zeigen, was vorhanden ist – die Einbettung in jene Verhältnisse, die wir Realität nennen. Denn aus dieser Perspektive ist nur jenes Bild wirklich dokumentarisch, das zeigt, was noch gar nicht existiert und vielleicht einmal kommen kann.“[1] 

 

 

[1] Hito Steyrl, Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismus im Kunstfeld, Wien 2008, 15-16.